Dem Spülsaumtrio auf der Spur
In der Salzwiesen-Wildnis des Nationalparks Wattenmeer
An der schleswig-holsteinischen Westküste sind diesige oder gar neblige Tage in der kalten Jahreszeit nicht gerade selten. Beim winterlichen Deichspaziergang bietet dann die einzigartige Stimmung am Rande der Salzwiesenweiten genügend Inspiration für Geschichten um Liebe, Missgunst bis hin zu Mord. Sah ich dort hinten im Dunst nicht gerade einen Schimmel auf der Deichkrone weggaloppieren?…
Was in der Überschrift „Dem Spülsaumtrio auf der Spur“ nach einem der in Mode gekommenen Nordsee-Krimis klingt, ist auch ohne ein Verbrechen sehr spannend:
Wie aus dem Nichts fliegt plötzlich ein ganzer Schwung Kleinvögel vor mir auf und holt mich aus meinen Gedanken. Am Boden waren die Vögel mit ihrer bräunlichen Oberseitenfärbung im Angespül gut getarnt. Ihre sphärisch klirrenden „tieh“ u. „zirr“-Rufe lassen sie auch noch beim Abfliegen als Ohrenlerchen bestimmen.
Ohrenlerchen gehören zu den typischen Wintergästen des Nationalparks. Man findet sie fast immer in der Nähe des Deichfußes, dort wo die höheren Wasserstände i.d.R. zur Springtide, d.h. zwei Tage nach Voll- bzw. Neumond, einen schier endlos langen Saum von Treibgut anschwemmen. Neben größeren Teilen, wie Holz unterschiedlichster Herkunft, Faschinen*-Resten aus dem Lahnungs**bau, Pflanzenteilen der Salzwiesenvegetation, Schilf, Seegras, Schulpe*** und leider auch Paraffin und Plastikmüll, bringt das Wasser auch Wertvolles im Kleinen mit sich.
Um es im Detail zu erkennen empfiehlt sich eine Lupe, man muss sozusagen die „Kleinvogel-Brille“ aufsetzen. Dann zeigt sich eine Fülle von Samen. Klein und unscheinbar wie die des Quellers, rundlich wie die von der Strandmelde und der Strandsode. Dreieckig zeigen sich die Samenhüllen der Spießmelde und die vielspitzigen Samenhüllen der Portulak-Keilmelde erinnern in ihrer Form entfernt an das Corona-Virus. Weitere Samen anderer Pflanzen, wie dem Strandflieder aber auch von Gräsern werden ebenfalls gezielt genutzt. Allesamt sind sie wahre Power-Nahrung für körnerfressende Singvögel. Neben den Ohrenlerchen, zeigen sich im Winter vor allem Berghänflinge und Schneeammern an diesem gedeckten Tisch und bilden zusammen das bei uns so genannte „Spülsaumtrio“.
Im nordischen Schönheitswettbewerb gibt es keine Verlierer. Ob nun die Ohrenlerche mit ihrer gelb unterlegten „Räubermaske“ und ihren Feder“ohren“, die Schneeammer mit der hübschen Mischung aus beige und weiß im Kontrast zu schwarzen Schwingen oder der braune Berghänfling, der sein farbliches Highlight in der violetten Färbung seiner Oberschwanzdecken hat – allesamt echte „Hingucker“!
Doch der Moment ihrer Beobachtung kann kurz sein. Sie patrouillieren den Deichverlauf, bleiben selten lange an einer Stelle. Gejagt werden sie auch, besonders gern vom Merlin – schließlich kommt er ebenfalls aus Skandinavien. Heimische Kost verschmäht er nicht! Wenn der Platz nach seinem Auftauchen dann beräumt ist, kehrt wieder die winterliche Ruhe ein. Brachvogelrufe schallen noch von weit her, man hört seinen eigenen Atem. Die Gedanken können wieder Flügel bekommen…
* Faschinen: Reisigbündel
** Lahnung: Schlickfangzaun (zum Schutz vor Ufererosion) aus doppelten Holzpflockreihen gefüllt mit Faschinen
*** Schulp: Innenskelett bzw. kompressionsstabiler Auftriebskörper von Sepien (gehören zu den Tintenfischen)
Martin Kühn
ornitho-Regionalkoordinator für Dithmarschen und Nordfriesland, Mitglied der Avifaunistischen Kommission in Schleswig-Holstein und Hamburg.
ORNIWELT dankt den Fotografen M. Kühn, C. Wiedemann und T. Sacher für das zur Verfügung gestellt Bildmaterial.
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