Mittwinterzählung auf Fehmarn

Es ist Samstag, 8:30 Uhr, Sonnenaufgang. Wir stehen zu zweit vor dem berühmten Nabu-Naturschutzzentrum in Wallnau auf Fehmarn – allerdings nicht vor den Teichen, sondern auf dem Westdeich und schauen aufs Meer. Es sind Minus 3 Grad, der Wind weht zum Glück schwach aus nordwestlicher Richtung und die Sonne ist gerade am Aufgehen. Es scheint ein traumhafter Wintertag an der Ostsee zu werden. Die Zeichen stehen gut. Wir scannen das Meer nach Wasservögeln ab. Gleich am Ufer schwimmen vor uns einige Stock-, Spieß-, Krick und Pfeifenten herum – Gründelenten, die wir eigentlich eher hinter dem Deich an den Teichen des Naturschutzgebietes erwartet hätten. Die Teiche waren aber in der Nacht fast vollständig zugefroren und nun findet man einige dieser Entenarten auf dem Meer.
Wir suchen weiter das Meer ab, einmal, zweimal, viele Male und versuchen so viel Vögel wie möglich zu finden.

Hinter den Gründelenten tummeln sich in zweiter Reihe einige Rothalstaucher, mal einzeln, mal in kleinen Trupps. Dieses Jahr sind es durchaus viele an dieser Stelle. Haubentaucher muss man schon etwas genauer suchen – im Binnenland ist man es anders herum gewöhnt. Draußen kann man viele weitere Entenarten sehen: Zahlreiche rastende Eider- und Trauerenten. Man kann im ersten Moment nur erahnen, wie viele es sind und weiß, dass weiter draußen, außerhalb der Sichtweite noch viele tausende mehr sitzen. Wir zählen alles so gut wir es erkennen und zählen können. Bei der Masse ist es gut, wenn man sich mit den Arten zu zweit aufteilt. Zwischen den Enten blitzen immer wieder einige Mittelsäger auf. Sie versammeln sich bereits zu kleineren Trupps und die Männchen sind schon kräftig am Balzen. Dabei sträuben sich die Kopffedern, der Hals neigt sich nach vorn und das Hinterende wird nach oben gestreckt. Ein schöner Anblick bei den bunten Vögeln.
Plötzlich kommen Eisenten geflogen. Mehrere Männchen im vollen Prachtkleid fliegen relativ nahe an uns vorbei. Obwohl wir im Laufe der Zählung noch einige Eisenten sehen werden, bleibt die Anzahl etwas unter den Zahlen früherer Jahre. Ein Trupp Bergenten fliegt weiter hinten über die Eiderenten. Ganze Teppiche von Enten sind weiter draußen zu sehen – schwer zu zählen.

Unsere Strecke führt uns weiter nach Süden zum Flügger Leuchtturm. Wir bleiben in regelmäßigen Abständen stehen und scannen weiter das Meer westlich von Fehmarn. Immer wieder notieren wir unsere gesehenen Arten und Zahlen. Die „Anderen“ zählen auf anderen Strecken der Insel sowie an diesem Wochenende auch in anderen Gebieten Deutschlands oder auch anderen Ländern. Es ist Internationale Wasservogelzählung und Mittwinterzählung auf Fehmarn.
Normalerweise wären wir mit mehreren Beobachtern auf dieser Strecke – viele Augen sehen mehr. Normalerweise würden wir das ganze Wochenende mit einer Vielzahl an Ornithologen die gesamte Insel zählen. Normalerweise würden wir uns abends gemütlich zu einer Suppe und zum Austausch treffen. Und das seit 50 Jahren immer Mitte Januar. Solange zählt der Arbeitskreis Vogelschutzwarte Hamburg mit einigen zusätzlichen Ornithologen aus anderen Regionen alle sichtbaren Vögel auf der Insel. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass manche Beobachter auch schon zum fünfzigsten Mal dabei sind und mit über achzig Jahren noch Strecken mit 12 km oder mehr problemlos mitlaufen. Normalerweise sind auch die Jugendlichen des YoungBirdersClub Hamburg dabei, für die es eigentlich immer ein toller gemeinschaftlicher Wochenendtripp ist, bei dem in den letzten Jahren immer tolle Beobachtungen herausgesprungen sind.
Aber was ist schon normal in einem Jahr, in dem man sich nur mit zwei Haushalten treffen darf. Die Pandemie hat uns zum fünfzigjährigen Jubiläum komplett ausgebremst. Statt feierliche Reden, alte Bilder und Erinnerungen gutes Essen sowie Presse und Rundfunk laufen wir nun in stark abgespeckter Personenzahl um die Insel. Gerade mal zu zweit laufen wir jede Strecke und zählen fleißig. Kein abendliches Treffen. Kein Austausch – jeder schickt seinen Zählbogen kontaktlos an die Organisatoren. Schade – bleibt zu hoffen, dass wir das in einem Jahr alles nachholen können oder in 30 Jahren sagen werden: „erinnert ihr euch noch an die Corona-Zählung im Winter 2020/21?“. Nichtsdestotrotz, die Pflichtaufgabe wird erfüllt und wir sind letztendlich froh, dass wir überhaupt auf die Insel und einen derart schönen Tag erleben dürfen.

Auf unserer Zählstrecke sind wir bereits weiter südlich in Flügge angekommen. Eine erste kleine Pause wird eingelegt. Neben heißem Tee und einem Snack wird natürlich immer wieder das Meer abgescannt. Einzelne Sterntaucher leuchten silbrig glänzend auf der Wasseroberfläche, andere fliegen wie ein Kleiderbügel über das Meer. Immer wieder leuchten die weißen Armschwingen der sonst schwarzen oder braunen Samtenten entgegen, die in kleinerer Zahl draußen hin und her fliegen. Das Flügelgeräusch schwirrender Schellenten können wir auch am Strand deutlich vernehmen. Plötzlich fährt ein einzelnes Fischerboot weit draußen über das Meer. Eine riesige Wolke aus Trauer- und Eiderenten befindet sich auf einmal im Himmel über dem Wasser. So groß die Störung durch die Boote auch ist, so gibt es für uns eine Chance, die tatsächlich weiter draußen rastenden Entenzahlen zu schätzen. Während sich die Enten langsam wieder beruhigen, fliegt ein schöner adulter Basstölpel langsam über das Meer nach Nord. Eine nicht sehr häufige Art in der Ostsee. Bereits in den letzten Wochen haben mehrere fleißige Beobachter durch intensives Seawatching in der nahegelegenen Lübecker Bucht herausgefunden, dass sich dort mehrere Basstölpel stationär aufhalten und mit etwas Geduld weit draußen beobachten lassen. Durch den Kattegat in Dänemark kommen immer wieder einige dieser großen Seevögel in die südliche Ostsee. Bisher hatte man aber immer nur vorbeiziehende Einzelvögel und keine stationären Gruppen. Neben zahlreichen anderen Phänomenen ist dies ebenfalls eine neue spannende Entwicklung in der Ostsee. Zudem haben Forschungen ergeben, dass sich Vögel von der Helgoländer Brutkolonie hier in der Ostsee aufhalten.

Mein Mitbeobachter ruft plötzlich, dass er möglicherweise eine Raubmöwe weiter draußen entdeckt hat. Genau verfolgen wir den Vogel und stellten fest, dass es ganze drei Raubmöwen sind, die da draußen herumfliegen. Nach dem Basstölpel steigen die Glücksgefühle weiter und wir beobachten aufgeregt die Raubmöwen, die sich langsam und schwerfällig nach Norden bewegen. Sie fliegen relativ hoch und kommen gelegentlich plötzlich auf die Wasseroberfläche runter um in Trauerententrupps zu jagen. Auch eine Beobachtung, die sicherlich nicht so oft beobachtet wird. Die träge Flug- und Jagdweise, die sehr breiten Flügelansätze, der kräftige dicke Körper mit dickem Hängebauch und weitere Merkmale lassen darauf schließen, dass es Spatelraubmöwen sind. Auch diese Art wurde in den letzten Tagen in der benachbarten Lübecker Bucht bereits gemeldet. Auch das ist womöglich eine interessante Entdeckung, da diese Art in der Anzahl und Wiederholung im Mittwinter nicht unbedingt zu den üblichen Phänomenen der südlichen Ostsee gehören. Die Region hat bei genauen Beobachtungen ornithologisch unheimlich viel zu bieten und in den letzten Jahren konnten wir immer wieder höchst interessante neue Entdeckungen machen.

Unsere Freude über Basstölpel und Raubmöwen ist riesengroß, die Sonne scheint und wir haben noch einen landschaftlich sehr schönen Teil vor uns. Wir laufen am Steinstrand entlang zum Flügger Leuchtturm. Ein Merlin kreuzt unseren Weg und versucht erfolglos einen der rastenden Grünfinken zu erhaschen. Hinter dem Leuchtturm liegt das Naturschutzgebiet Krummsteert – eine lange, sandige Dünenzunge. Dort treffen wir auf das andere Team, das die benachbarte Strecke zählt. Wir tauschen uns kurz aus und machen eine verspätete Mittagspause. Die Landschaft ist traumhaft. Das Dünengras glitzert in der Sonne, auf dem Meer leuchten die Eiderenten, im Hintergrund sieht man das Panorama der Fehmarnsundbrücke, dem Wahrzeichen der Insel und in der Bucht nebenan kann man neben vielen Enten und Schwänen alle drei Sägerarten im wunderschönen Prachtkleid beobachten. Auf den Schlickflächen rasten einige Alpenstrandläufer, Kiebitzregenpfeifer und eine Mittelmeermöwe. Nach der Pause geht es langsam zurück – allerdings binnendeichs. Auf dem Rückweg zählen wir die Vögel, die in den angrenzenden Dünenwäldchen und Wiesen rasten: Rotkehlchen, Rotdrosseln, vereinzelte Singdrosseln, Finken, Kornweihen, Große Brachvögel und einige Arten mehr. Der angrenzende Flügger Teich mit seinen großen Schilffgebieten wird ebenfalls gezählt. Auf der kleinen eisfreien Fläche tummeln sich knapp 2000 Reiherenten, gemischt mit einigen Berg-, Krick- und Löffelenten.

Die Zählung geht zu Ende und gegen 15 Uhr sind wir müde aber äußerst glücklich wieder am Parkplatz des Nabu Naturschutzzentrums Wallnau angekommen. Bis zum Sonnenuntergang fahren wir noch zum Burger Binnensee nach Burgstaaken. Dort erwarten uns bereits trompentende Singschwäne in der Abendsonne sowie zahlreiche Großmöwenarten, die darauf warten von uns durchgemustert zu werden. Ein wunderschöner Tag klingt genauso aus wie er angefangen hat.

Christian Wegst

Christian Wegst ist studierter Biologe und Lehrer. Bereits seit vielen Jahren zählt er sich außerdem zu den passionierten Vogelbeobachtern. Passion und Berufserfahrung setzt er unter anderem, in seiner Arbeit als Leiter des „Young Birders Club“ in Hamburg für die Nachwuchsförderung in der Naturbeobachtung ein.

ORNIWELT dankt den Fotografen S. Rust und C. Wegst für das zur Verfügung gestellt Bildmaterial. Bitte halten Sie mit den Fotografen oder der ORNIWELT GmbH Rücksprache, sollten Sie die hier gezeigten Bilder nicht im Zusammenhang mit diesem Text und Hinweis auf die Fotografen und die Orniwelt GmbH verwenden wollen.