Grüße aus der Arktis
Das Frühjahr auf den Halligen ist geprägt von den Ringelgänsen. Vielstimmig legen sie, harmonisch ergänzt durch die klagenden Gesangsstrophen der zahlreichen Goldregenpfeifer und das pausenlose Trällern der Feldlerchen, einen typischen Klangteppich über diese flachen Wattenmeer-Eilande. Der gehört zum Leben der Halligbewohner dazu, wie der Wind, die salzige Luft, die Melodien der Trachtengruppen oder der plattdeutsche Schnack. Einzigartig in Deutschland!
Kaum ein anderer Vogel begleitet mich in meinem vogelkundlichen Alltag so sehr wie die Ringelgans, ob dienstlich als Nationalpark-Ranger oder nach Feierabend als Freizeit-Ornithologe. Manchmal glaube ich, ihr Vogeljahr, ihr jahreszeitlicher Zyklus strukturiert auch mein Leben. Besonders deutlich wird es im Herbst. Innerlich schon regelrecht unruhig erwarte ich die ersten Vorboten des Wegzuges, die ersten Ankömmlinge aus Sibirien. Die wenigen Übersommerer, die bedingt durch körperliche Schwächen nicht den Heimzug in die Brutgebiete angetreten haben, sind dabei klar von den Weitstreckenfliegern zu unterscheiden. Besonders spannend sind dabei auch geeignete Nächte, denn nicht nur tagsüber kehren sie aus dem Land der Polarfüchse und Schneeeulen zurück. Das Parabolspiegel-Mikrofon auf unserer Husumer Dachterrasse wird oft erster Zeuge der Ankunft. Die nächtlichen Tonaufnahmen lassen mich dann am nächsten Morgen am Überflug der Gänse teilhaben. „Rott-rott-rott“ so typisch, dass es ihr liebevoll den niederländischen Namen „Rotgans“ eingebracht hat.
In den ersten Tagen des herbstlichen Einfluges erreichen uns Altvögel die keinen Bruterfolg hatten. Sie verlassen nach der Mauser die Brutgebiete zuerst, denn es hält sie kein Nachwuchs auf. So richtig spannend ist dann der nachfolgende Einflug der Familien. Wird es ein gutes Brutjahr gewesen sein? Wenn die ersten Jungvögel ihre Stimmen hören lassen, ein deutlich erkennbares etwas höheres „brerrp, brerrp“, erfasst mich ein gewisser Schauer der Freude. Allerdings muss der Bruterfolg „wissenschaftlich trocken“ bemessen werden. Auszählungen an den unterschiedlichen Orten der Nationalparkregion sind dafür Voraussetzung. Familien mit Jungvögeln sind prozentual stärker in der Nähe des Festlandes (als in Brackwasserregionen) zu finden. Die Fähigkeit, ausschließlich mit Salzwasser den Flüssigkeitsbedarf zu decken, ist in seiner Perfektion den Altvögeln vorbehalten. Eine kompliziert gebaute Drüse im Stirnbereich ermöglicht dies. Diese Drüse ist bei Jungvögeln noch nicht so effizient ausgebildet.
Wie viele Jungvögel in einer Familie zu sehen sind, also ob nur ein oder zwei bzw. vier oder gar fünf, erzählt von einem guten oder schlechten Sommer in der Arktis. Was ist gut für eine Ringelgans? Wettertauglich ist diese Kämpfernatur mehr als ausreichend. Wenn ich die Ringelgansbeobachtung trotz vielgepriesener „Outdoor“-Klamotte an manchen Tagen vor Kälte abbrechen muss, können sich diese 1 – 1,6 kg schweren Leichtgewichte im Federngewand nicht ins warme Auto oder in die nächste Gaststätte zurückziehen. Entscheidend für ein gutes Brutjahr ist der Druck durch die Prädatoren – Raubmöwen, Polarfüchse und Schneeeulen. Ihr Zyklus wird vom Auftreten der Lemminge bestimmt. Alle drei bis vier Jahre gibt es von ihnen ein Massenauftreten. Der dadurch abgeschwächte Prädationsdruck auf die Ringelgänse lässt sich dann im Herbst bei uns durch den höheren Jungvogelanteil dokumentieren. „Act local, think global“ ist im Sinne der Ringelgans eine zutreffende Parole. Nur wenn die Gänse im Frühjahr auf den Halligen sich die nötigen Fettreserven ausreichend angefressen haben, ist, ob Lemmingjahr oder nicht, mit einer erfolgreichen Brut zu rechnen.
Bei aller Begeisterung für diese Art, ihren Fähigkeiten und Leistungen, ihrem ausgeprägten Sozialverhalten… bleibt auch ihr faszinierter Betrachter, also ich, irgendwie ein Jäger. So mustere ich große Ringelgans-Schwärme auch deshalb durch, ob unter den Schwärmen der Nominatform, der „Dunkelbäuchigen Ringelgans“, nicht eventuell eine „Hellbäuchige“ (Unterart hrota) aus Grönland, Spitzbergen, Franz-Joseph-Land und Ostkanada oder gar eine „Pazifische“ Ringelgans (Unterart nigricans) aus Ostsibirien, Alaska oder Nord-Kanada zu finden ist. Auf den Halligen gelingt das immer wieder. Doch es ist die berühmte Suche nach… der etwas anderen Gans. Rasten auf Hallig Hooge im Frühjahr ca. 15.000 Ringelgänse der Nominatform bernicla, so stehen dieser Masse maximal 10 bis 15 Individuen der Hellbäuchigen und nur 1 bis 3 Individuen der Pazifischen Ringelgans gegenüber.
Alljährlich lassen sich auch Rothalsgänse als willkommene Farbtupfer in der Masse der anthrazit-braunen Vogelleiber finden, mit Glück sogar mehrere Individuen. Manchmal fallen sie – besonders im Frühjahr, also hormongesteuert – durch ihre hohen „kijiek“-Lautäußerungen in der Klanglandschaft der gutturalen Ringelgansrufe auf. Ich war einmal erstaunt, wie weit diese Rufe eines Männchens zu hören waren. Das „Quitscheentchen“-Geräusch erreichte mich am südlichen Hooger Sommerdeich aus gefühlt der halben Entfernung zur „Vogelhallig“ Norderoog.
Mittlerweile werden die Ringelgänse im Frühjahr seit vielen Jahren gefeiert
– von Naturschützern und Einheimischen (was sich beides nicht ausschließt): „Ringelganstage in der Biosphäre Halligen“. Selbst die verschiedenen Umweltminister, Staatssekretär*innen der vergangenen Jahre zollten dieser Vogelart mit ihrem Besuch Respekt und würdigten diese Feiern als beispielhaft, entsprechend einer Modellregion.
Zum Ende der zahlreichen Veranstaltungen rund um die Ringelgans denke ich allerdings auch schon an den Abschied. Man kann fast die Uhr danach stellen… um den 20. Mai beendet der Zugtrieb der Gänse das Spektakel im Wattenmeer. Dass es bald soweit seien wird, zeigen die Gänse mir mit ihrer körperlichen Verfassung. Propper sehen sie aus! Die Gänseforscher nennen es daher auch Rubens-Index. Je praller das Fettdepot im Unterschwanz sich nach außen wölbt, desto näher rückt der Abflug. Und wenn es dann so weit ist, schaue ich ihnen in Hinblick auf einen guten Bruterfolg hoffnungsvoll hinterher… und denke: „bis bald dann im Herbst“.
Ringelganstage
Die diesjährigen Ringelganstage finden vom 23. April bis 15. Mai statt. Mehr darüber unter: www.ringelganstage.de
Das komplette Programm der zahlreichen Veranstaltungen findet man direkt hier: https://ringelganstage.de/ringelganstage/veranstaltungskalender
Impressionen von Hallig Hooge aus dem März 2022 (© Martin Kühn)
Martin Kühn
ornitho-Regionalkoordinator für Dithmarschen und Nordfriesland, Mitglied der Avifaunistischen Kommission in Schleswig-Holstein und Hamburg.