Kraniche hautnah erleben

Kranichpaar

Ein Tag an der Kranichbeobachtungsstation KRANORAMA an der Ostseeküste

Es ist 7 Uhr morgens, als ich mit dem Fahrrad auf den Parkplatz der Kranich-Beobachtungsstation KRANORAMA, ca. 20 km nordwestlich von Stralsund, einbiege. Dichter Nebel verdeckt den Blick auf die Günzer Seewiesen– und den auf die Kraniche. Die sind aber bereits jetzt umso eindrucksvoller zu hören: Majestätisches, kilometerweit zu vernehmendes Trompeten erfüllt die Luft und weist mir den Weg zur Beobachtungsstation.

Die Kraniche sind jetzt, Mitte März, zahlreich aus ihren Überwinterungsgebieten im Süden Europas zurückgekehrt und machen unter anderem auf dem Festland zwischen Fischland-Darß-Zingst und Rügen Station, bevor sie weiter in ihre Brutgebiete nach Skandinavien ziehen. Neben der Diepholzer Moorniederung in Niedersachen und dem Rhin-Havelluch in Brandenburg ist das Gebiet der Darß-Zingster-Boddenkette und Rügen die bedeutendste Rastregion der großen grauen Vögel in Deutschland. Zwischen 50.000 und 70.000 Kraniche rasten hier im Herbst gleichzeitig. Die Station an den Günzer Seewiesen widmet sich der Beobachtung unserer „Vögel des Glücks“ und hat sich zu einem beliebten Ziel von Hobby-Ornithologen, Tierfotografen und Naturbegeisterten entwickelt. Der moderne Bau aus Lärchenholz, der von Kranichschutz Deutschland betrieben wird, begrüßt seit 2015 zu den Zugzeiten der Kraniche alljährlich mehr als 14.000 Gäste. Auf zwei Ebenen kann man mit Spektiv und Fernglas den Vögeln, die nur wenige hundert Meter entfernt nach Nahrung suchen, ganz nahekommen. Im Frühjahr beeindrucken ihre Balztänze und das leuchtende Rot ihrer federlosen Kopfplatte; im Herbst begeistert die große Anzahl der Kraniche, die hier zu Gast ist.

Als sich der Nebel lichtet und den Blick auf die Günzer Seewiesen freigibt, wird klar, warum Jahr für Jahr ornithologisch Interessierte zielsicher genau diesen Ort ansteuern: Auf den Wiesen, auf denen Kranichschutz Deutschland seit Jahrzehnten eine durch Spenden finanzierte Ablenkfütterung veranstaltet, tummeln sich etwa 100 Kraniche. Immer wieder kommen neue Verbände hinzu, andere fliegen ab. Es wird gezankt, getanzt, nach Nahrung gesucht und lautstark trompetet.

Ablenkungsfütterung
Ablenkungsfütterung

Und als wäre das nicht schon Spektakel genug, rasten auf den Seewiesen auch noch tausende andere Vögel: Darunter sind nordische Gäste wie Grau-, Saat-, Bläss– und Weißwangengänse sowie Krick-, Spieß-, Pfeif–, Stock- und Schnatterenten. Und wo ein derart vielstimmiges Geschnatter herrscht, ist auch der Seeadler nicht fern. Täglich zieht er über dem Günzer See, auf dem im Winter auch Singschwäne zu beobachten sind, seine Kreise. Und er ist nicht der einzige: Auch andere Greifvögel wie Sperber, Rotmilan, Rohrweihe und Wanderfalke können aus den geöffneten Fenstern des KRANORAMAs mit etwas Glück und der nötigen Portion Ausdauer erspäht werden. Manchmal sind auch Kiebitze oder Große Brachvögel zu Gast.

Rohrammer
Rohrammer
Kiebitz
Kiebitz
Rohrweihe
Rohrweihe

Mit Fernglas und Spektiv ausgestattet stehen an der Beobachtungsstation mehrere ehrenamtliche Ranger von Kranichschutz Deutschland bereit. Auf einem Smartphone, das mittels Adapter der Firma Novagrade auf dem Spektiv befestigt ist, können die Gäste der Beobachtungsstation das Verhalten der Kraniche live studieren.

Die ehrenamtlichen Ranger sind gut informiert: Sie kennen die aktuellen Zahlen des Rastgeschehens, geben individuelle Tipps zur Vogelbeobachtung in der Region und beantworten sämtliche Fragen der Gäste. Sie erzählen davon, wie im Herbst 2019 wegen eines Zugstaus zeitgleich ungefähr 90.000 Kraniche in der Region rasteten und damit für einen bis dahin nie erreichten Rekord sorgten, schildern die abenteuerlichen Abläufe bei einer Kranich-Beringung und deren Bedeutung für die Wissenschaft und helfen Groß und Klein beim Justieren des Spektivs. Plötzlich herrscht Aufruhr auf den Wiesen: Alle Gänse fliegen auf, die Kraniche rücken zusammen und recken die Schnäbel nach oben. Der Seeadler ist zu Besuch und fliegt mit Tempo durch die chaotische Gänseschar.

Gänse
Die aufgescheuchten Gänse
Seeadler
Die Seeadler

Doch heute hat er keinen Erfolg und trollt sich in den hinteren Teil der weitläufigen Wiesen, wo er oft und lange regungslos in den Bäumen sitzt und auf die nächste Chance wartet. Während ich die Eindrücke auf mich wirken lasse, dringt ein bekannter fröhlich-zwitschernder Gesang an mein Ohr. Und richtig: Auf der im Vorjahr neu angelegten Blühwiese vor dem KRANORAMA sitzen Stieglitze auf den verblühten Karden. Auch einige Buchfinken und Grünfinken sind darunter und sogar ein Schwarzkehlchen nimmt auf einer der Sonnenblumen Platz.

Stieglitze
Stieglitze

Als sich der Nachmittag dem Ende zuneigt und die untergehende Sonne die Landschaft in ein orangerotes Licht taucht, wird es für die Kraniche Zeit, den Standort zu wechseln. Unruhe macht sich breit und wie auf ein unsichtbares Kommando erheben sie sich in die Lüfte und fliegen in langen Ketten Richtung Bodden – geradewegs in die untergehende Sonne.

Kraniche im Sonnenuntergang

Im seichten Wasser der Lagunen und des Windwatts vor Pramort an der Ostspitze der Halbinsel Zingst und auf den Inseln Barther Oie und Kirr befinden sich die wichtigsten Schlafplätze. Der allabendliche Schlafplatzeinflug ist ein faszinierendes Erlebnis, das man z.B. von der Beobachtungshütte 3 km nördlich des NABU-Kranichzentrums in Bisdorf erleben kann. Entweder im Rahmen einer der geführten Exkursionen oder ganz privat für sich selbst. Auch ein Ausflug auf die Halbinsel Zingst lohnt sich im Frühjahr und Herbst: Tausende Zugvögel nutzen die Flachwasserzonen des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft als Trittstein auf ihrem Weg in die Brut– bzw. Überwinterungsgebiete. Ohrenlerchen, Sanderlinge, Knutts, Bekassinen, Große Brachvögel, Rotschenkel, Austernfischer, Regenpfeifer, Kampfläufer und Säbelschnäbler: Das Artenspektrum ist riesig!

Im Außenbereich des KRANORAMAs packen gerade ein Dutzend Fotografen ihre Ausrüstung zusammen, als ich im letzten Licht des Tages die Beobachtungsstation verlasse. Im Schutz des Holzgebäudes steht man in günstiger Distanz zu den Fütterungsflächen. Der für Fotografen ausgewiesene Bereich darf gegen Spende ganztägig benutzt werden und erfreut sich gerade in den frühen Morgen– und späten Nachmittagsstunden großer Beliebtheit. Auf meinem Weg zurück zum Parkplatz treffe ich einen besonders schwer bepackten Fotografen. Er hatte eine der vier Fotohütten gemietet, die Kranichschutz Deutschland ambitionierten Fotografen zur Verfügung stellt, und einen Tag lang Impressionen von den Günzer Seewiesen gesammelt. Begeistert erzählt er mir von vorüberstreifenden Rehen im dichten Nebel, balzenden Kranichen direkt vor seiner Hütte, einem gurrenden Hohltaubenpärchen, einem Fuchs, der um die Gänseschar herumschlich, und dem Seeadlerbesuch, den er aus nächster Nähe erlebt hat. 12 Stunden in der engen Hütte, die nach dem Vorbild der schwedischen Exemplare am Hornborga-See gebaut wurde und die vor Sonnenaufgang betreten und erst nach Sonnenuntergang wieder verlassen werden darf, verlangen den Fotografen einiges an Geduld und Durchhaltevermögen ab. Aber fast alle sind sich einig: Das Erlebnis, auf Augenhöhe in nächster Nähe Kraniche zu beobachten und zu fotografieren, ist einmalig. Und bei vielen Fotografen und Kranichguckern ist es wie bei dem charismatischen Zugvogel: Sie kommen jedes Jahr wieder.

Nachtfrost vor der Fotohütte
Nachtfrost vor der Fotohütte
Blick aus der Fotohütte
Blick aus der Fotohütte

Während sich die Rast der Kraniche im Herbst über mehrere Wochen erstreckt, haben sie es im Frühjahr eilig, wieder zurück in ihre Brutgebiete zu gelangen und ihre Reviere zu besetzen. Für ornithologisch Interessierte bietet sich daher ein Besuch der Region zwischen Stralsund und Fischland-Darß-Zingst in der zweiten Märzhälfte sowie im September und Oktober an. Aber auch die Wintermonate sind verlockend: Die Rufe der Singschwäne sind fast überall zu hören und mit etwas Glück entdeckt man vielleicht sogar ein paar Schneeammern. Mehr Informationen zum „Kranichparadies Ostseeküste“ erhalten Sie unter www.kraniche.de oder in direktem Kontakt mit dem NABU-Kranichzentrum in Groß Mohrdorf.

Günter Nowald ist Leiter des Kranoramas.

Fotos
Alexander Müller: Titelbild, Nebel, Rohrhammer, Blick aus der Fotohütte
Heidi Witzmann: Kranorama, Kiebitz, Steglitze, Spektiv, Ablenkungsfütterung, Sonnenuntergang, Nachfrost vor der Fotohütte
Karsten Peter: Balz, Rohrweiher, Gänse
Knut Fischer: Seeadler